„Und dann müssen wir pünktlich Maja und Dana vom Schulbus abholen“. In meinen Gedanken erschien eine große Hauptverkehrsstraße und eine freundliche Überraschung heute die Beiden (9+10 Jahre) mal vom Bus nach langer Busfahrt abzuholen.
Um 16 Uhr sollte der Bus kommen, also machten wir uns um 15.45 Uhr auf den Weg. Was heißt dabei auf den Weg? Wir gingen ca. 100 Meter und trafen dort auf alle anderen Eltern, die ihre Kinder abholen wollten. Mitten in einer Einzelhaussiedlung auf Long Island, wo es große Vorgärten gibt und kaum ein Auto die Straße kreuzt. Und: fast in Sichtkontakt zum Haus der beiden „Abzuholenden“. Ich war verwirrt und fragte vorsichtig, ob die Beiden denn diese Strecke nicht alleine bewerkstelligen könnten. Eine Gefahr würde da ja irgendwie nicht drohen. Entgeistert wurde ich von meiner Tante angeschaut, die ihre Kindheit ja immerhin in Hamburg Barmbek verbracht hatte und die Fraenkelstraße besuchte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie dort jemals abgeholt wurde. „Björn, die Welt ist gefährlich geworden. Wir holen alle Kinder ab. Jeden Tag. Eigentlich bis sie 21 sind. Wer sein Kind nicht abholt, gilt als schlechte Familie. Schau sogar die Familien, die direkt an der Busstation wohnen, kommen aus ihrem Haus. Eltern legen ihre Mittagspausen so, dass sie ihre Kinder abholen können.“
Die ganze Absurdität wurde mir später noch drastischer vor Augen geführt, als zwei Tage später, der Bus eine Stunde Verspätung hatte. Maja stieg schimpfend aus dem Bus und berichtete, dass sie eigentlich alleine von der Schule nach hause gehen wollte, aber unter Strafe abgehalten wurde. Da erst dämmerte es mir, dass es gar nicht so weit weg sein konnte zur Schule. Wir fuhren am Nachmittag zur Spielplatzeröffnung in die Schule und brauchten sieben Minuten mit dem Auto. Aber in den USA fahren alle Kinder mit dem Schulbus. Ganz egal wie weit weg die Schule ist.
Man könnte es lächelnd mt "typisch USA" abtun, aber wir brauchen gar nicht so weit gucken, denn die Zeiten in denen Schulkinder in Hamburg als Tageshöhepunkt über ihren Schulweg berichteten ist auch lange vorbei. Wenn ich den Autokorso vor unserer Nachbargrundschule Genslerstraße jeden Morgen sehe, wird mir Angst und Bange. Und ich erinnere mich an den Bericht meiner Studienfreundin Nicole, die ihre Tochter als einziges Kind der Klasse Tag für Tag zu Fuß in die Schule schickt und ständig dafür wirbt, dass andere mitgehen. „Aber doch nicht bei Regen“ hört sie da häufiger.
Es soll keineswegs ein Aufruf zur Vernachlässigung seiner Kinder sein, ganz im Gegenteil. Aber: Wir überhüten uns! Jedenfalls, der Teil von Eltern, der sich doch eigentlich um seine Kinder kümmern möchte.
Es folgt ein Plädoyer für Freiheit und nicht für Vernachlässigung.
Es ist gut, dass wir uns um die Sicherheit unserer Kinder sorgen, aber sind nicht nur freie Kinder, starke Kinder? Es macht doch fassungslos, dass der Bau eines Baumhauses auf einem deutschen Schulhof vier Jahre dauert. Während ich am anderen Ende der Welt bin, kämpft der grandiose Geschäftsführer der Baugenossenschaft der Buchdrucker Herr Seeger um dieses Projekt. Man braucht Architekten und eine Baugenossenschaft um heutzutage die Anforderungen von zweitem Rettungsweg, Fallsand, Gitterzwischenräumen und Fallhöhen für ein Baumhaus zu erfüllen. Früher haben wir mit Brettern eins auf unserem Schulhof selbst gebaut. Da kletterte man aber auch noch auf Bäume und es war noch nicht verboten. Unsere Eltern haben noch in Ruinen gespielt und da konnte einem ganz schön was auf den Kopf fallen. Heute nicht mehr, denn freie Spielflächen geschweige denn Ruinen gibt’s nicht mehr und wenn doch, ist die Nutzung nicht legal, wie mein Schwager Ruben in seiner wunderbaren Examensarbeit über Freiflächen in Barmbek ausmachte (es gibt nicht ein paar ziemlich Tolle!)
Das soll auch kein „früher war alles besser“ werden, aber vielleicht inspiriert durch die Erlebnisse auf einem anderen Kontinent, auch für uns einmal Zeit zum Nachdenken geben. Waren freie Flächen, freie Stunden, überbordende Fantasie im Abenteuerspiel nicht der Grundstein unseres Seins heute?
Ich war froh manche Tage um 11.00 Uhr Schulschluss zu haben (und damals gab es sogar noch echtes Hitzefrei) und bis zur Dämmerung auf den Höfen der Diesterwegstraße und Drögestraße zwischen den Hauptverkehrsadern Fuhle und Hufnerstraße rumzubutschern.
Heute gibt es Ganztagsschulen (zum Glück), Kitas bis abends, sichere Spielplätze (wirklich sicher!) und kaum einen Moment wo Kinder einfach nur „sein“ können. Klavierunterricht, Sportverein und Bastelkurse – all das ist wichtig und hat seine Berechtigung. Aber unsere Kinder haben das Spielen verlernt und das Klettern und das Verantwortungsübernehmen für sich selbst. Und wir sind Schuld, denn wir verbieten die Rolle rückwärts im Sportunterricht, weil sich da so viele Kinder verletzt haben.
Ich hasste die Rolle rückwärts und bestimmt hab ich mir bei den Versuchen abzurollen so manchen Schmerz eingefangen, aber ich kann sie, bis heute. Ich kletterte in die Bodenschlange auf dem Stadtparkspielplatz, in die immer nur ein Kind pro Richtung passte. Krabbelte rückwärts wenn der andere stärker war und wunderte mich über Kinder, die stecken blieben. Einmal kam dann sogar die Feuerwehr. Heute würde der Spielplatz mit solch einem Spielgerät geschlossen. Gut so!
Auf unseren Jugendreisen fragen wir am Ende nach der „Aktion der Reise“ und immerzu steht da „Drop Out“ vorne. Diese Nachtwanderung bei der wir Gruppen mit ihren Leitern mitten in der Nacht im Wald aussetzen und sie nach hause finden müssen. Es ranken sich unendliche Geschichten um Drop Out und es prägte eine ganze Generation von Schach-Jugendleitern, dass sie in irgendeinem Wald vom Harz bis Schweden verschollen waren. Ich warte auf den Tag an dem etwas im dunklen Wald passiert (was ja immer mal passieren kann) und ich höre schon die Schreie: Wie kann man mit Jugendlichen nachts durch den Wald laufen?
Darauf gibt es nur eine Antwort: Man kann nicht, man muss!
Man muss unsere Kinder ermutigen und das bisschen Freiheit was unsere Welt noch bietet auszutesten. Und es ist tatsächlich tragisch wenn irgendwo ein Kind in Deutschland vom Baum fällt und sich schwer verletzt. Aber noch viel tragischer ist es, wenn gar kein Kind mehr auf Bäume klettert. Die Folgen davon sind unermesslich.
Kinder müssen allein zur Schule gehen können (wenn es irgendwie möglich ist). Und das meint: in Gruppen mit den Mitschülern und ohne Eltern. Sie müssen Schmetterlinge entdecken und Steinplatten zählen. Sie müssen vor „komischen Männern“ weglaufen und ihre Angst schulen, wie wir es sooft gemacht haben, als es den Obdachlosen „Tarzan“ am Osterbekkanal noch gab. Denn durch all diese Erfahrungen werden sie stark, können Situationen einschätzen und Urteile fällen.
Es ist eine furchtbare Welt von Maskenmördern und unsäglichem Verkehrsaufkommen. Tatsächlich kann immerzu und überall etwas passieren. Aber wir können unsere Kinder nicht beschatten und ein Leben lang sichern. Wir müssen unserer Welt vertrauen, sonst stehen wir alle bald an Schulbussen 100 Meter vor unserem Haus.
Wir müssen uns kümmern, immerzu, es ist unsere oberste Aufgabe Kinder zu schützen. Und die Vernachlässigung, die viele Kinder erfahren, macht wütend. Aber darum geht es hier nicht. Es ist ein schmaler Grat zwischen Freiheit und Sicherheit. Aber lasst uns ihn wenigstens immer neu Bedenken. Das ist zwar anstrengend, aber es lohnt.
Lasst Kinder alleine zur Schule gehen.
Klettert auf Bäume.
Gebt Freiflächen den Kindern zurück.
Hört genau zu.
Seid für Kinder da.
Schlaft unterm Sternenhimmel.
Verplant nicht alle Freizeiten
Macht Lagerfeuer.
Seid stark und frei.
Genießt das Leben.
Vertraut.
Spielt Drop Out.
Und letztendlich: Feiert mit uns unser Baumhaus (sobald es denn wirklich irgendwann steht)!
LebensArt in der Fraenkelstraße |
Barmbek verreist - natürlich mit Drop Out! |
Das Klettern war verboten. "Das verantworten sie aber, wenn jemand runterfällt..." |
Apfelmus vom Feuer - Gibt es was Besseres? |
einfach draußen sein |
auf Bäume klettern |
sich Kloppen (zum Beispiel auf meiner Geburstagsferienreise mit 40 Freunden) |
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