Montag, 12. Dezember 2011

Gedanken über Schule in Deutschland im Jahr 2011

Wieder gerate ich in Erklärungsnot. Wie alt meine Schüler den seien? Immer wieder auf dieser Reise stehe ich vor dem Dilemma und die obligatorische Frage folgt auch sofort : „Ah Highschool?“ Wiedereinmal beginne ich ganz von vorne: „Nein, also in Deutschland geht man bis zur vierten Klasse in die Grundschule.“ „Schulpflicht bis zehn Jahre nur?“ „Nein, also danach werden die Schüler getrennt. Man muss noch weiter zur Schule gehen.“ „Also, mit zehn Jahren gehen die Kinder unterschiedlichen Schwerpunkten nach, je nachdem was sie gut können?“ „Nein, mit zehn Jahren kommen sie aufs Gymnasium oder in eine Stadtteilschule, wie es jetzt in Hamburg heißt, oder Haupt- Realschule oder ähnliches.“ „Und was ist der Unterschied? Das Gymnasium führt zum Abitur, die Stadtteilschule auch irgendwie. Aber es ist schon so, dass aufs Gymnasium die Kinder kommen, die studieren sollen.“ „Und das weiß man in Deutschland im Alter von zehn Jahren?“ „Nein, eigentlich nicht, aber es ist halt so.“ „Wer entscheidet denn wer wo hinkommt?“ „Also die Lehrer geben ne Empfehlung. Und die Eltern entscheiden.“ „Als ich zehn Jahre alt war, da hätten meine Eltern mich am liebsten von der Schule genommen“, lacht der 25 jährige Kanadier, der gerade sein Biochemie-Studium abgeschlossen hat, „so schlecht war ich.“ „Was passiert mit den Kindern auf der anderen Schule?“will die Neuseeländerin wissen. „Also, die machen häufig eine Berufsausbildung. Wenn sie denn eine bekommen. Oder sie machen doch noch Abitur, wenn sie zu den Besten gehören.“ „Ich wäre heute bestimmt Bäcker!“, sagt Jeff, 30jähriger Amerikaner, der als Produktmanager im Flugzeug neben mir sitzt und um die Welt jettet, „wäre ja auch nicht das Schlechteste!“
„Kinder mit zehn Jahren zu trennen, ist doch Unsinn“, finden Pawel und Luba aus Prag. Und Maria aus Lima regt noch etwas ganz anderes auf. Sie ist Grundschullehrerin in Lima und in ihrer Klasse dürfen maximal zwölf Kinder sein. „Die machen einen auch schon ganz schön zu schaffen. Mehr geht doch gar nicht. Da verliert man doch den Blick auf alle anderen! Deutschland ist doch ein reiches Land. Wie kann das sein?“
Plötzlich wird mir PISA klarer. Deutschland ist hinterher. Kanada, Neuseeland, Australien sogar die USA und Peru. Alles was ich hörte klingt besser. Menschlicher, klarer!
Und ich erkennen eines in all den Gesprächen, mit den Menschen von überall auf dieser Welt, die meine Schilderungen nur kopfschüttelnd ertragen:
Kinder nach zehn Lebensjahren in zwei Schulformen zu unterteilen, ist ein Verbrechen. Wir können hunderttausendfach sagen, dass die Chancen sein Abitur auch auf der Stadtteilschule zu erreichen, gewachsen sind. Und wir kämpfen an der Stadtteilschule Barmbek darum. Bei jedem Kind. Aber es bleibt eine Einteilung in „gut und schlecht“. Kinderseelen müssen erkennen, dass sie vielleicht das erste Mal in ihrem Leben zu den großen Verlierern gehören. „Und hast du es aufs Gymnasium geschafft?“ „Nee, zu dumm...“
Verdammt, was macht das mit einem Kind?
Ich seh unsere fünften Klassen vor mir. Großartige, tolle Kinder. Niemand würde sagen, dass das die Verlierer sind. Aber es fühlt sich so an.
Als Hamburg vor zwei Jahren um die Primarstufe abgestimmt hat. Also dem Verbleib von Kindern wenigstens sechs gemeinsame Jahre in einer Klasse. Habe ich natürlich dafür gestimmt. Doch solche Abstimmungen werden nicht mit Einsicht und Menschlichkeit gewonnen. Solche Abstimmungen machen diejenigen unter sich aus, deren Kinder natürlich das Gymnasium besuchen oder besuchen werden. Notfalls mit der täglichen Nachhilfe aus Papis Geldbeutel. Was interessiert es denn, wenn anderswo Kinderseelen kaputt gehen. „Nicht mein Problem!“ Die Schwachen haben nicht abgestimmt. Oder zu wenige. Ganz alleine aus dem Grund, weil sie schwach sind. Und auch chancenlos gegen riesige Werbebudgets von „Wir wollen lernen!“ waren. Wer hinter diesem „Wir“ dieser erbärmlichen Kampagne steckt, bleibt ein Rätsel.
Ich hoffe doch, dass „alle“ lernen wollen. Manche es allerdings nicht so gut können. Die Kampagne hätte meiner Meinung nach anders heißen müssen: „Wir werden lernen. Und ihr seid uns egal!“
Dies ist kein Plädoyer für Gleichschaltung. Und ich scheue mich auch nicht davor das manchmal verpönte Wort Eliten in den Mund zu nehmen. Es ist doch völlig klar, dass wir alles tun müssen um die Starken, die Hochbegabten, die Inselbegabten zu fördern und zwar: Bis an ihre Grenze und am besten: weit darüber! Aber warum müssen wir dafür die Anderen im Alter von zehn Jahren brechen? 30 Kinder in einer Klasse waren zu viel – unmöglich. Aber auch 24 sind für eine Lehrkraft eigentlich nicht zu bewältigen. Da braucht man nicht bloß eine peruanische Lehrerin zu fragen. Wir brauchen Teamteaching und den Mix der Professionen. Und zwar überall und nicht nur stundenweise. Damit alle Kinder „gesehen“ werden, ohne dass Lehrer mit einem Fuß im Burn-Out schweben. Es kann doch nicht sein, dass jede Woche heulende Junglehrer(innen) in meinem Büro sitzen, weil sie es einfach „nicht schaffen“. Ehrlich: es ist nicht zu schaffen!
Wenn wir PISA ernst nehmen, wenn wir wirklich „alle Talente“ fördern wollen, dann müssen wir aufhörten Schule zu machen, wie wir immer Schule gemacht haben.
Vieles davon kostet Geld. Mehr davon Engagement und Willen. Und wir brauchen Zeit.
Wir müssen jedes Kind sehen und fördern. Dabei meine ich auch die ganz leistungsstarken Kinder. Wir müssen uns von den Fächern abwenden, die uns hundert Jahre begleitet haben, denn es ist doch völlig klar, dass alle Fächer eng zusammenhängen und „fächerübergreifend“ noch viel zu schwach ist für wahres Lernen. Bildung kommt von bilden. Wir müssen Wissen, Meinungen, Einsichten bilden. Nicht bloß lernen! Bildung dauert.
Wir müssen mit den Schülern „raus“ gehen. In die Welt. Die Zeit der Klassenräume als einziger Unterrichtsraum sind vorbei. Und nicht bloß für Ausflüge und Exkursionen. „Draußen“ muss Teil von Schule sein. Wiwe zum Beispiel in Norwegen. Zu weit weg sind Klassenzimmer von all dem Anderem. Wir müssen unsere Kinder wissbegierig machen, mutig, entdeckend. Die Welt wartet auf uns. Lasst sie sehen und erkennen.
Wir sollten uns daran setzen und Bildung ganz neu überdenken, ohne Wenn und Aber. Vermutlich muss dafür auch das jahrhundertelang bewährte Modell der Gymnasien geopfert werden. Was gestern gut war, muss heute nicht schlecht sein. Aber vielleicht auch nicht mehr gut genug. Ich bin sicher: Unsere „Eliten“ würden keinen Schaden nehmen. Es sei denn man sähe den Schaden darin, dass plötzlich andere auch „lernen wollen“.
Lehrer und Lehrerrollen müssen hinterfragt werden - guckt mal nach Schweden und vielleicht auf die außerschulischen Jugend-Bildung in Hamburg.
Dafür müssen alle an einen Tisch. Bildungskonferenzen sind eine gute Idee, aber was sind ihre Befugnisse? Vielleicht reicht auch ein größerer Freiraum für Schulen. Starke Konzepte einfach ausprobieren lassen. Mutig nach dem Besten suchen. Die guten Ergebnisse von Kassel, Bielefeld bis Wiesbaden übertragen. Mittel und Möglichkeiten dafür zur Verfügung stellen.
Wir müssen Schule und Jugend wieder unter einem Dach betrachten. Wie absurd ist es, dass zwei unterschiedliche Behörden diese Belange in Hamburg regeln. Jugendämter und Schulen müssen Hand in Hand gehen. Ohne Vorbehalte. Ebenso die Universitäten, die Firmen. Und damit meine ich keine Einzelprojekte. Ich meine: Alle! Schule ist keine private Sache von Lehrern und Schulen. Schule geht alle an. Die ganze Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen. In Afrika sagt man: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.
Wir brauchen das Dorf.

Wenn wir es alle wollen, dann können wir es schaffen. Es braucht Zeit. Vielleicht sogar eine Generation. Aber wir müssen beginnen. Denn die Schere geht mehr und mehr auseinander. Irgendwann werden mehr Autos brennen, vielleicht ganze Stadtteile. Wer schon als Kind zu den Verlierern gehört, hat nichts zu verlieren. Und wer als Kind nur mit Gewinnern lernt, wird nix kapieren.

Wir müssen uns um diese Kinder kümmern. Und um die Macher von morgen. Die Firmenchefs, die Politiker, die Zeitungsbosse und auch die Lehrer unserer Zukunf. Sie alle müssen wissen, was in unserer Welt wirklich geschieht und wie man sie besser machen kann. Dafür braucht es die bestmöglichste Bildung. Aber auch um all die anderen Kinder, die unsere Gesellschaft eines Tages leben werden, müssen wir uns kümmern. Das ist unsere Pflicht. Das muss es uns einfach Wert sein.

Und Letztendlich müssen wir das Fach „Menschlichkeit“ in unseren Stundenplan aufnehmen . Nicht nur in den schulischen, sondern in unseren ganz alltäglichen eines jeden Menschen. Schon nach der ersten Unterrichtstunde wäre jedem klar : Man kann einem Kind im Alter von zehn Jahren doch nicht sagen, dass es zu den Verlierern dieser Gesellschaft gehört.

1 Kommentar:

  1. Kommt davon, wenn man neben der Arbeit schreibt und ständig abgelenkt wird^^ hier noch mal der korrigierte Kommentar :-)

    WOW :-) Da les ich mal wieder einen deiner spannenden Reiseartikel (was ich zugegebenermaßen sehr gern aber nur sporadisch tue) und denke mir: "Wie lang ist 'der' eigentlich schon unterwegs?"

    Kaum ins Jahr 2011 geklickt, lande ich hier auf diesem Artikel und lese und lese und lese und merke ich kann nicht aufhören zu lesen und merke auch wie Recht du doch mit all dem hast!

    Das Schulsystem in Deutschland bringt viele Gewinner hervor, aber noch mehr Verlierer, die an den strikten Regeln gescheitert sind. Gescheitert daran, dass Menschen in Noten gemessen werden und dass in Lehrerkonferenzen unbarmherzige Entscheidungen getroffen werden müssen, wie z.B. das jemand sitzen bleiben muss oder gar die Schule vorzeitig verlassen muss (auch wenn die meisten Lehrer ihre Schützlinge sicher gern behalten und einfach besser fördern würden)..

    Auch das System der Benotung sollte meiner Ansicht nach überdacht werden. Sicher ist dies das simpelste und einfachste Prinzip der Bewertung, aber wird es wirklich den Stärken eines jeden gerecht? Oder versucht es nicht viel mehr die Schwächen aufzuzeigen und so schon in der Schule nach "Elite" und "Proletariat" zu sortieren? Aber wie du schon richtig sagst, bräuchten die Lehrer für eine andere Art der Bewertung/Wertschätzung mehr Zeit für jeden einzelnen.. Lehrer gibt es glaube ich genug, bloß sind diese nicht automatisch auch an Schulen angestellt..

    Wie du schon sagst sehen diese Entwicklung alle, vor allem aber die Gewinner, die all ihre Energie/Macht/Reichtum dafür verwenden, das genau alles so bleibt und ihre Kinder auch die nächste Elitengeneration stellen.

    Aber dank so engagierter Menschen wie dir, bin ich sicher, dass etwas bewegt werden kann! Sicher wird es dauern und sicher wird man sich auch im klaren darüber werden müssen, ob es nicht irgendwann mal ein einheitliches Bildungsdeutschland geben sollte..

    Eins steht fest: Wenn ich als Papa irgendwann mal in den Schulsystemstrudel geraten sollte, werde ich an dich denken!

    Liebe Grüße
    Timo

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