Dienstag, 17. April 2012

Was ist schon Zeit?

Zeitangaben auf Wanderkarten sind so eine Sache. Ich stehe mehr auf Kilometerangaben - wenn sie denn stimmen. Andererseits können Zeitangaben ein bisschen Aufschluss über den Schwierigkeitsgrad einer Tour geben. Wenn zum Beispiel zwei Stunden für zwei Kilometer veranschlagt werden, dann scheint irgendetwas Unangenehmes auf einen zu warten. Meistens ein Berg.

Und trotzdem bleiben die Zeitangaben äußerst subjektiv. In Südafrika wanderte ich zum Kap der guten Hoffnung. Dort stand: 1,5 Stunden vom Parkplatz zum Aussichtspunkt. Den sah ich aber schon. Und der Weg war mit Holzbrücken bergab. Konnte ich mir nicht vorstellen. Waren dann auch nur 25 Minuten. Ein südafrikanisches Rentnerehepaar brauchte allerdings fast zwei Stunden. Also Kondition und Alter?

Das Alter möchte ich ausschließen nachdem wir mit Eva, Ingo und Dietelchen bei der legendären Lapplandtour vor einigen Jahren uns durch den Schnee schleppten. Eine Tagestour war so gewaltig, dass wir „Zwischenzelten“ mussten – bei minus 20 Grad. Und auch am nächsten Tag nur mühsam die Hütte erreichten. Dort waren wir alleine, woher sollte auch irgendjemand anderes kommen? Wer würde schon im Eis zelten? Niemand. Dachten wir. Bis es klopfte. Im Eis zelten brauchte das alte schwedische Ehepaar auch nicht. „Wieso Zwischenzelten?“, fragten sie verdutzt. „Wir sind die Strecke in einer Tour gelaufen“, sagten sie noch ehe sie sich in der kleinen Hütte umschauten. Uns völlig erschöpft anblickten und dann entschieden zur nächsten Hütte zu wandern. „Ist ja noch früh!“, waren ihre Worte beim Blick auf die Uhr. Wir mussten am nächsten Tag auf unserer siebenstündigen Tour zur nächsten Hütte noch oft an sie und unsere Kondition denken.

So viel zu Kondition und Alter.

Wie aber würden die Argentinier ihre Routen beschreiben?
Mein Tipp: Als Outdoorvolk Patagoniens sollten wir die Zeitangaben lieber respektvoll betrachten. Auf unserer Karte war der Weg am Fluss zum Basiscamp des Mount Fitzroy mit zwei Stunden angegeben. Danach rund eine halbe Stunde zum Beginn des Aufstiegs und 45 Minuten hoch zum Bergsee. Kilometer insgesamt: Neun! Alles in allem – wir mussten ja auch noch zurück: 18 Kilometer und gut sechs Stunden.
Meine Antwort:hoch respektvoll! Jedenfalls in unserer Verfassung. Für alte südafrikanische Ehepaare gilt: Nehmt Zelte mit.
Als wir nach dreieinhalb Stunden das Basiscamp erreicht hatten, machten wir uns schon Gedanken ob wir wirklich den Aufstieg noch wagen sollten. Zum Glück erfrischte uns glasklares Trinkwasser aus den Bergquellen und gab uns Mut und Kraft. Bis zum Beginn des Aufstiegs eine weitere knappe Stunde und dann endlose Schleifen durch den Schotter mit festem Blick zu unserem Gipfel.

Und dann waren wir oben. Fünfeinhalb Stunden statt der angegeben „gut drei“. Na und?
Der oft nebelverhangene Mount Fitzroy erstrahlte im blauen Himmel wie eine „Erscheinung“. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen derart charismatischen Berg gesehen habe. Wir setzten uns und blickten andächtig auf dieses Naturmonument. Das Schöne am Wandern ist für mich stets diese genussvolle Kombination aus totaler Erschöpfung, Zufriedenheit über die bewältigte Aufgabe und die Berührung durch Aussicht auf unsere fantastische Mutter Erde.

Und deswegen ist es auch egal, ob man die angegeben Wanderzeit über- oder untertrifft. Früher machte ich mir deswegen oft Gedanken, wenn ich andauernd überholt wurde. Heute ist es mir egal. Warum sollte schnelles Wandern besser sein? Haben die Menschen, die den Deathwoman-Pass auf dem Inkatrail (siehe http://www.bisbaldbarmbek.blogspot.com/2012/02/von-sauerstoffgeraten-und-goldfolien.html) in drei Stunden erstürmen mehr oder Besseres erlebt?

Nein, aber auch nicht weniger oder Schlechteres. Jeder muss seinen Weg gehen. So schnell und so weit er kann und will. Seine eigenen Herausforderungen finden und seine Grenzen testen. 
Das Wichtigste ist doch: Es überhaupt zu tun. Diese wunderbare Welt zu erwandern. Sicher ist nämlich nur, dass wer nicht wandert, all dies nicht erlebt. Und deswegen: Hut ab, vor dem schwedischen Paar aus Lappland und ebenso vor dem südafrikanischen Paar vom Kap der guten Hoffnung. 
Und auch vor uns. Denn wir hatten diese Tour bewältigt. Und es war egal, dass andere schneller laufen oder weniger erschöpft waren.  Egal, dass unsere Knie beim Abstieg mehr schmerzten, als die Atemnot beim Aufstieg. Egal, dass es langsam dunkel wurde. Und wirklich völlig Egal, dass wir am Ende für die angegebene Sechsstunden-Tour über zehn Stunden benötigten...
Denn wir waren erschöpft, hungrig und glücklich.



 


























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