Sonntag, 18. März 2012

Von tollwütigen Hunden und Skorpionen

Ich habe Angst auf Nachtwanderungen. Und damit meine ich Nachtwanderungen, wie man sie von Klassenreisen kennt: Also durch irgendein Gehölz in der Nähe einer schleswig-holsteiner Jugendherberge. Meinetwegen auch in Niedersachsen. Irgendein irrer Jugendleiter versteckt sich irgendwo und erschreckt einen. Und der einzige, der sich wirklich zu Tode erschreckt, bin dann ich.

Ich bin also ein Schisser! 1985 war das es dann mit dem „zu Tode“ erschreckt fast wortwörtlich soweit. Wir waren in Verden und mein damaliger Schachtrainer Rainer baute eine derart schreckliche Geschichte rund um tollwütige Hunde und Wildschweine aus, dass selbst die Verdener Dünen wie Tolkiens Mordor auf mich wirkten. Obgleich ich weder Tolkien noch Mordor damals kannte, war das Erreichen der Jugendherberge eine vergleichbare Aufgabe wie die Zerstörung des Ringes. Gleichermaßen wie ich an Rainers Lippen hing, so zitterte mein ganzer Körper, wo ich doch schon vor Hunden ohne Tollwut die Straßenseite wechselte. Ich war also schon völlig durch und betete, dass es wenigstens schnell zu Ende gehen würde mit mir. Dann biss er zu.
Nicht der Hund. Rainer. Von Hinten mit den Händen in meine Kniekehlen. Dabei laut bellend. Bis heute habe ich mich nicht erholt. Und das hat Auswirkungen. Viele Schachkinder mussten seitdem leiden. Weinten, kreischten. Ich kopierte diese Geschichte. Viele Male. Denn nun leite ich Nachtwanderungen. Ich übertreibe, ich plane, ich fabuliere, ich belle. Ich stelle Tollwutschilder auf. Mit jedem Erschrecken wird mein Trauma kleiner. Aber ich spüre es noch. Kinder sind also nicht sicher. Noch ist das letzte Drop Out also nicht gespielt, die letzte Wildschweine-Story nicht erzählt.

Nun allerdings, steht als Überraschung eine Nachtwanderung durch den Regenwald an. Unser Guide schaut in aufgeregt lächelnde Gesichter. Und in meines.

„Wie es mit Tollwut aussieht“, höre ich mich fragen, bevor mir einfällt, dass ich ja extra für diese Reise dafür geimpft wurde (was weder Debeka noch Beihilfe bezahlt haben – aber das ist eine andere Geschichte ). Er versteht mich nicht, was vielleicht auch daran liegt, dass Tollwut im Englischen gar nicht Nice-Rage heißt. Ich gehe mein Möglichkeiten durch. Weglaufen, Wegschwimmen, Umfallen. Viel bleibt nicht. Da werden schon die Gummistiefel gebracht, darum mussten wir also bei Anmeldung unsere Schuhgrößen nennen. Hatte mich schon gewundert. Name, Vorname, Wohnort, Telefonnummer, Schuhgröße. Etwas ungewöhnlich.
Sie passen nicht. Also in der Länge vielleicht, aber nicht in der Breite. Also meine Waden sind das Problem. Oder meine Chance. Nicht schlimm. Tja, dann nächstes Mal. Viel Spaß Euch! Da steht auch schon unser Guide vor mir. Krempelt die Gummistiefel zu Halbschuhen um. So geht’s. Verdammt. „Ist es nicht so ein bisschen zu...“ „Nein, wir sind hier schließlich nicht im Amazonas-Tiefland, Björn“
Also stapfen wir durch die Nacht und neben tollwütigen Hunden, rieseln mir Anacondas durch die Fantasie. Wir stoppen abrupt. Ich erschrecke vor einer Riesenkröte. Dann ein Skorpion. Klein und nur wenig giftig. Es ist immer noch dunkel. Eigentlich wird es jetzt erst finster. Wir stapfen durch den Urwald. Dann ein Termitennest. Alle sollen ihren Finger in das Nest stecken. Ich auch. Machen wir. Gruppenzwang. Die kleinen Ameisen sollen nach Minze schmecken. Alle ekeln sich. Das finde ich nun gar nicht schlimm und schlürfe meine genüsslich vom Finger. Schmecken tatsächlich wie Minze. Machen frischen Atem. Kurz bin ich der Held.

Dann gehts weiter. Und mein Status bricht zusammen. Ich hab immer noch Angst. Während vorne unser Guide mit der Machete den Weg frei haut, entstehen neue Gruselgeschichten. Klassenreisen-Kinder dieser Erde zittert schon einmal vor der Macheten-Mörder-Story. Man sieht kaum seine eigenen Füße. Immer wieder schlackern uns Lianen ins Gesicht. Ich bin kampfbereit und auch gegen Anacondas. Dann: Mitten im Dschungel ein Licht. Panik. Wir stoppen. Unsere Hütte. Ich habe überlebt. Ich zittere noch. Nächste Jugendreise du kannst kommen. Na warte!

P.S.: Vor zwei Jahren habe ich übrigens rausgefunden, dass Rainer auf der Nachtwanderung 1982 in Melsungen gar nicht in eine Teufels-Axt gefallen ist, wie ich als damaliger „jüngster Teilnehmer“ fast dreißig Jahre lang glaubte. Er hat sich einfach so die Arme gebrochen. Nachtwanderungen sind also gar nicht so gefährlich. Besonders, wenn man gegen Tollwut geimpft ist. Rainer und ich sind heute immer noch befreundet.

Nachtwanderung durch den Regenwald


Gummischuhe mit großer Krempe



Schmeckt nach Minze


Riesenkröte - giftig?

Miniskorpion

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