Es ist Sechs Uhr morgens. Ich blinzele in die Wolken. Oder genauer gesagt in den Himmel. Dort nämlich liegt das heutige Etappenziel: Der Dead Woman Pass. Rund 1200 Meter Höhenunterschied in rund fünf Kilometern werde ich in den nächsten Stunden erklimmen müssen. Danach geht es dann 800 Meter Höhe runter und dann bin ich fertig! Und seltener traf vermutlich eine Prognose die Wahrheit wie eben diese: Dann bin ich „fertig!“.
Ich könnte jetzt jammern oder klagen. Aber erstens hilft es nichts und zweitens beschreibt es nur sehr ungenau die Qualen die mich trafen. Ich wanderte Schritt für Schritt und Stufe für Stufe. Und als ich nach einem Kilometer das Schild für „einen Kilometer“ sehe, will ich nicht mehr weiter. Ich pausiere lange und dann geht’s wieder. Nämlich genau 25 Meter. Dann noch 25 und so weiter. Irgendwann ist es still um mich. Längst sind keine Träger mehr bei mir. Und auch keine andere Menschen. Neben mir grast ein Reh. Könnte aber auch eine Halluzination sein. Ich weiß es nicht.
Aber ich weiß, dass mein Guide José hinter mir ist. Das ist Gesetz. Immer mit dem Langsamsten der Gruppe. Aber er bleibt unauffällig zurück. Er wird heute erst spät Feierabend machen können. Dafür habe ich mich nun schon viele Male bei ihm entschuldigt. Er sagt, dass er zuversichtlich ist. Ich revidiere: Er wird heute gar keinen Feierabend mehr machen können.
Wieder ein Schritt. Es geht nicht mehr. „Wie ist es nur möglich?“ frage ich mich, dass all diese Menschen an mir vorbeischießen konnten. Viele waren schlichtweg fitter als ich. Andere aber sahen alles andere als sportlich aus. Es nagt. Aber ich gehe mein Tempo. Wenn man diese Art der Bewegung „Tempo“ nennen darf.
Dann sind 2,5 Kilometer geschafft. Hier warten mehr Menschen als ich annahm. Einige liegen mit Krämpfen an der Seite. Einige Sauerstoffgeräte und Goldfolien sind im Einsatz. Dies ist keine Pausenstation, dies ist ein Lazarett. Ich kaufe mir zwei Liter Wasser – dies wird die letzte Wasserstelle für die nächsten zwei Tage sein. Danach erhalten wir abgekochtes Wasser von unseren Portern. Langsam kaue ich auf meinem Müsliriegel. War ich jemals so erschöpft in meinem Leben? Aber es fühlt sich auch gut an. Dann gehe ich weiter. Einige lasse ich zurück. Josés Daumen zeigt nach oben. Das ist gut gemeint. Aber ich hoffe er hat auch Goldfolie und Sauerstoff dabei.
Denn langsam wird die Luft immer dünner. Und damit meine ich nicht nur meine Konditions-bedingte Schnappatmung. Nun wird es wenigstens mal richtig steil und ruhig. Ich krabbel auf allen Vieren. Wieder sind keine Menschen um mich herum. Dann schaue ich noch einmal genau in Richtung der Wolken und sehe in unfassbarer Entfernung eine Gruppe Mini-Menschen den Pass emporsteigen. Das ist unser Weg. Da muss ich hin? Ich sinke auf meinen Rucksack und esse ein paar Nüsse.
José kommt um die Ecke - baff. Vor 300 Metern und knapp einer Stunde bin ich aus dem Halbzeitcamp aufgebrochen. Nun sitze ich hier. Wenn er nicht so ein höflicher Mensch wäre, würde er seinen Daumen von eben senken. Ich zeige ihm die Menschen in der Ferne. „Wanderer“ sagt er. Bis zu diesem Moment hatte ich auf kleine schwarze Flecken auf der Netzhaut gehofft. Ich stemme mich hoch. „Wie lange kann man noch bis ins Camp gehen?“ José lächelt: „um 15 Uhr bist du da!“ Die Frage ist nur was er mit „da“ genau meint.
Darüber sinne ich die nächste Stunde nach – also die nächsten 300 Meter. Nun tauchen wieder Goldfolien und Sauerstoffgeräte am Wegesrand auf. Ein Wanderer ist kreidebleich und hustet so erbärmlich. Er liegt eingerollt in Decken und zwei Guides knien neben ihm. Dies ist irgendwie kein Spiel. Und eigentlich doch auch unverantwortlich, dass alle Welt sagt: den Inka-Trail – den schafft jeder!“
Aber ich widerlege mich natürlich selbst. Denn vor mir liegt der Gipfel. Ich sehe den Pass. Winkende Menschen – klein, aber ich sehe ihre Bewegungen. „Die letzten 500 Höhenmeter sind die Schlimmsten“ hatte José gesagt. Treppen. Und damit meine ich keine Treppenhaustreppen, sondern Stufen rund einen halben Meter hoch. Jede einzelne wuchte ich mich und meinen Rucksack mit Hilfe meiner beiden Wanderstöcke hoch. Irgendwie so muss sich meine 90jährige Nachbarin in meinem Treppenhaus daheim fühlen, wenn sie in ihre Wohnung im vierten Stock steigt.
Der Wind pfeifft. Die letzte Stufe. Jubelnde Menschen. Und ich genieße ihn. Diesen letzten Schritt. 4216 Meter – so hoch wie noch nie in meinem Leben. Zu Fuß. Ich schaue den Weg zurück. Wo noch eine ganze Reihe Wanderer zu sehen sind. Und dieser Weg ist viel mehr als ein Weg. Er ist gleichsam ein Symbol. Denn vor einem halben Jahr führte mich eine Fahrradtour über 30 Kilometer über den Ostseewanderweg an meine Grenze. Nun stehe ich hier auf „meinem Dach der Welt“. Ich spüre, ich bin zurück im Leben. In einem Leben, das ich schon fast vergessen hatte. Mit Kraft und Vertrauen in den eigenen Körper – weit weg von Frust-Schokolade und Dauer-Schreibtisch. Ausgepumpt, erledigt, glücklich. Es sind noch viel Wege zu gehen – auch schwere. Aber der Dead Women Pass fühlt sich plötzlich an wie meine Auferstehung. Die 800 Meter abwärts, fliege ich in 60 Minuten. José lacht und hat Mühe Schritt zu halten. Ich stürme ins Camp. Er ist einer der ersten Guides mit Feierabend. Es ist 14.21 Uhr.
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Los gehts |
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Blick zurück |
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Pause nach einem Kilometer |
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Wanderer in der Ferne |
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Treppen immer wieder Treppen |
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Eine Halluzination |
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Aus diesem Tal kam ich |
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Pause bei 2,5 Kilometer |
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weiter immer weiter |
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Der Blick zurück wird weiter |
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Der Blick nach oben weniger anstrengend |
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Heute kein Feierabend? |
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Wir haben es fast geschafft |
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Die letzte Stufe |
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Dead Woman Pass - meine Auferstehung |
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Und es geht nach unten..., |
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Guide im Nebel |
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Die Porter warten schon mit großen Köstlichkeiten |
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Ein großer und bedeutender Tag. |